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Jochen Stelzer
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Geschult im Sehen - 25 Jahre "Marler Gruppe"

Archiv > 1991 - 2000 > 1993
Geschulte im Sehen - 25 Jahre "Marler Gruppe"
Fernseharbeit an der VHS - erschienen in: VHS VI '93
von Jochen Stelzer

Die "Marler Gruppe" ist seit 25 Jahren ein Forum kritischer Fernsehzuschauer, die parallel zu den "professionellen" Jurys ihre eigenen Programm-Bewertungen vornehmen und kontinuierlich den Dialog mit den Produzenten suchen. Jochen Stelzer ist seit Jahren Sprecher dieser von ihm als durchaus "repräsentativ" bewerteten Gruppe von Zuschauerjuroren. Er schildert u.a. die ganzjährige Arbeit der "Marler Gruppe" innerhalb des Medien-Programms der Marler Volkshochschule, "die insel". Und er beschreibt die Schwierigkeiten, das erworbene Wissen über die Bedingungen des Fernseh-Machens mit einer den Zuschauerinteressen verpflichteten Bewertung von Sendungen zu vereinbaren.

Das "Projekt Fernsehen", der Adolf-Grimme-Preis, feiert sein 30 jähriges Jubiläum. Ein bemerkenswertes Projekt der Volkshochschule, das hier in Marl ganz unterschiedliche Wirkungen auf die Medienarbeit der "insel" ausübt. Herausragendes Beispiel für Kontinuität und flexible Anpassung an die sich permanent verändernden Sehgewohnheiten und Ansprüche der Zuschauer ist die "Marler Gruppe", die fernsehkritischen Arbeitsgemeinschaft der "insel". Bert Donnepp, Adolf-Grimme-Preis und die "Marler Gruppe" sind nicht voneinander zu trennen, sie sind unterschiedliche Teile seiner umgesetzten, medienpädagogischen Vision. Schon früh erkannte Bert Donnepp, damaliger Leiter der Marler VHS "insel", dass die Mediennutzung auf vielfältige Weise eingebunden ist in die sich permanent ändernde menschliche Wirklichkeit. Medien transportieren, interpretieren, systematisieren und verfälschen Realitäten unterschiedlichster Art. Die in diesem Prozess ablaufende Wechselwirkung zwischen Zuschauer und Einfluss gewinnendem Massenmedium galt es zu hinterfragen, Mechanismen aufzuzeigen und einen bewussten Umgang mit den Programmangeboten zu erlernen; ein originäres Aufgabengebiet der Erwachsenenbildung.

Als 1963 der "Grimme-Preis" seinen festen Ort in Marl fand, lag es auf der Hand, die Marler Zuschauer gezielt mit dem noch jungen Medium zu konfrontieren. Der Nährboden dazu war ein-Marlig: Bert Donnepp; eine experimentierfreudige "Insel"; Rückhalt im Stadtrat; aufgeschlossene Bürger; langjährige Kursangebote in den Bereichen "Radio", "Film"; "Fernsehen"; Dialoge mit Publizisten aller Couleur. (Nachzulesen in "Für ein kulturelles Stadtbewusstsein" von Bert Donnepp.) Aber auch das gesellschaftliche Umfeld war "reif" für medienpädagogische Arbeit mit dem Zuschauer. So wünschte Adorno 1963: kritische Fernseh-Organisationen in Form von Fernsehteilnehmer-Organisationen, die nach wie vor eine Aufgabe für die gesamte Erwachsenenbildung sind."

Und Prof. Dr. Karl Holzamer, Gründungsmitglied des ZDF, fasste seine Erwartungen an eine methodische kritische Auseinandersetzung mit dem Programm so zusammen: "... das die Erziehung zum sogenannten Wahlgebrauch des Fernsehangebotes Kern der Bildungsbemühungen ist." In diesem aufgeschlossenen Klima fiel beim 5. Adolf-Grimme-Preis der Startschuss für die "Marler Gruppe", für ständige Screen-Education, für permanente Auseinandersetzung mit Produktionsgrundlagen, Wirkungsmöglichkeiten und mit besonderen aktuellen Themen des Fernsehens. Die Zuschauer, für die letztlich das TV-Programm gemacht wird, sollten zu Wort kommen. Neben den Marler Fernsehzuschauern beteiligte sich erstmals eine Arbeitsgemeinschaft fernsehkritischer Bürger der "insel" an den öffentlichen Sichtungen des Wettbewerbs und gab am Ende einer langen Sichtungswoche ihr fundiertes Votum ab. Die Resonanz darauf war bemerkenswert, nicht nur in der Marler Ortspresse. Logische Konsequenz dieses erfolgreichen Starts: Ausbau dieser Medienarbeit und Institutionalisierung der "Marler Gruppe" zur festen Arbeitsgemeinschaft der "insel", mit einer starken inhaltlichen Bindung an den Adolf-Grimme-Preis und Zielen der Medienpädagogik der Erwachsenenbildung, die Hans Tietgens so formulierte: „Das Fernsehen hat viele Sprachen. Damit sie bekannt und gekonnt werden, bedarf es der Kommunikation über das, was das Fernsehen anbietet." Aus der Beschäftigung mit den TV-Wettbewerbsproduktionen wuchs der Wunsch, sich regelmäßig und umfassend mit dem Fernsehen, mit seinen Rahmenbedingungen und seiner Wirkung auseinanderzusetzen.

Repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt

Die Arbeitsweise der "Marler Gruppe" entwickelte sich in den folgenden Jahren schnell über die reine Beteiligung am Grimme-Preis hinaus und etablierte sich im Programm der "insel". Ihre medienkritische Ausrichtung mauserte sich zu einer kontinuierlichen Beschäftigung mit dem aktuellen Fernsehprogramm, mit ausgewählten Fernsehproduktionen, Produzenten und Produktionsbedingungen. Ihre Kompetenz und Aussagekraft schöpfte die "Marler Gruppe" aus ihrem tatsächlich vorhandenen repräsentativen Querschnitt der Marler Bevölkerung. Erreicht wurde diese Mischung durch gezielte Ansprache über die Presse, das Kursprogramm, persönliche Ansprache, Flüsterpropaganda, Werbung an den Berufsschulen, in den Gewerkschaften (mit einer beabsichtigten Rückkopplung in die Arbeiterschaft der zwei größten Arbeitgeber Marls.) Dieser Zusammensetzung verdankt die "Marler Gruppe" ihre 25-jährige Lebendigkeit, ihre Glaubwürdigkeit und die Kontinuität ihrer Arbeit.

Anfang der 70er Jahre formte sich ein Arbeitskonzept der "Marler Gruppe", das die Kursarbeit über viele Semester prägte. Es gab keine Curricula für die ständige medienkritische Fernseharbeit in der Erwachsenenbildung, die jeweiligen Kursleiter entwickelten daher in Absprache mit dem zuständigen Fachbereichsleiter Vorgaben und Ziele für die anstehenden Semester. Zentraler Dreh- und Angelpunkt war die breitangelegte Diskussion einzelner Sendungen. Jeder Kursteilnehmer stellte seine Beiträge der vergangenen Wochen vor, die er als bemerkenswert, außergewöhnlich oder innovativ, empfand. In einzelnen Fällen schaute sich die Gruppe Videoaufzeichnungen dieser Sendungen an. Diese teilnehmerorientierte Arbeitsweise deckte das ganze Spektrum ab; keine Programmsparte blieb unbeachtet. Im Verlauf der Semester erarbeiteten sich die Kursteilnehmer eigene Kriterien zur Beurteilung der Sendungen. Da in den frühen Jahren des Grimme-Preises die "insel" Ausrichter des "Marler Fernsehfestivals" war, standen den Kursleiter und der "Marler Gruppe" ein Kreis von fernseh- und Grimme-Preis erprobten hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeitern als Ansprechpartner zur Verfügung, die eine enge Vernetzung zum Preis und zur Medienarbeit der "insel" und des DVV sicherstellten. Regelmäßige Kursarbeit, Besuche beim WDR und ZDF, Gespräche mit Programmverantwortlichen und Preisträgern führten zu einer Professionalisierung der „Marler Gruppe", verschafften ihr einen kritischen Blick hinter die Kulissen und in die Redaktionen. Das Fernsehen und seine Programme wurden zunehmend nüchtern betrachtet, als ein von Menschen gemachtes, Interessen unterliegendes und am Konsum orientiertes Medium gesehen, das eine mögliche Form von "elektronischer Wirklichkeit" anbietet, die der Zuschauer mit gebotener Distanz und kritischer Auseinandersetzung nutzen soll. Die behutsam vorangetriebene Professionalisierung war häufig Gegenstand gruppeninterner Diskussionen. Der Status des Laien, des "normalen Fernsehzuschauers", rieb sich mit dem angesammelten Wissen um Mechanismen und Wirkungen des Mediums Fernsehen. Die "Marler Gruppe" war, mit Recht, stolz auf ihr Image als "Arbeitsgemeinschaft fernsehkritischer Bürger", konnte aber auch nicht mehr leugnen, dass die intensive Kursarbeit Wissensspuren hinterließ. Diese Spannung befruchtete über viele Jahre die Arbeit und machte den besonderen Reiz aus, den die "Marler Gruppe" auf ganz unterschiedliche Gesprächspartner ausübte.

"Marler Gruppe" stellte Dialog mit den Zuschauern her

Der Adolf-Grimme-Preis bot jährlich die mediale Bühne für die "Marler Gruppe", diese gruppeninterne Spannung zwischen "noch Laie" und "semiprofessioneller Fernsehkritik" in das Marler Fernsehfestival einzubringen. Sie verstand und versteht sich beim Wettbewerb als Teil eines Kommunikationsprozesses, mittelbar oder unmittelbar, in dem der sehgeschulte Zuschauer sich kritisch mit dem Fernsehen und seinen Verantwortlichen auseinandersetzte, das Fernsehen und die Fernsehschaffenden aber ebenso Gelegenheit haben, sich mit dem Publikum - sei es hoch spezialisiert, sei es "der einfache Zuschauer" - zu beschäftigen. Die "Laienjury", wie sie beim Wettbewerb oft betitelt wurde, setzte sich aus einem Querschnitt aller Kursteilnehmer der "Marler Gruppe" zusammen. 16 bis 20 "normale Zuschauer" opferten eine Woche ihres Jahresurlaubs, klinkten sich aus den Familien aus oder ließen sich "freistellen", um beim Grimme-Preis die Stimme und Sichtweise des kritischen Fernsehzuschauers einzubringen. Der Aufwand lohnte. In vielen Wettbewerben stellte die "Marler Gruppe" den Dialog zwischen den angereisten Fernsehverantwortlichen, Regisseuren, Autoren, Kameraleuten und den Zuschauern her. Intensive Diskussionen zwischen den Wettbewerbsvorführungen und in den Pausen, auf hohem Niveau und mit entwaffnender Direktheit, verhalfen der Gruppe zu einem beachtlichen Ansehen und machten sie zu einem gesuchten Gesprächspartner. Es verwundert daher kaum, wenn das Votum der "Marler Gruppe", publiziert mit dem Urteil der Jury "Allgemeine Programme" und verlesen bei der Preisverleihung, zunehmend an Beachtung bei den Geehrten und in den Sendeanstalten fand. Hans Kwiet, Hauptabteilung Fernsehspiel beim Sender Freies Berlin, schrieb dazu zum 19. Adolf-Grimme-Preis: "Gerade in der gegenwärtigen Zeit, wo die Zweifel an der Qualität einiger Fernsehproduktionen lautstark vorgetragen werden, um vermutlich den immer zahlreicher werdenden und oft dubiosen Fremdeinkäufen eine Begründung zu geben, nehme ich das Votum der fernsehkritischen Marler Bürger für unsere heimischem Autoren und Fernsehmacher besonders gerne auf. "Wettbewerbsleitung, das seit 1974 in Marl ansässige Adolf-Grimme-Institut und die "insel" erkannten die Chance, die die Mitwirkung der "Marler Gruppe" am Grimme-Preis bot: Das Urteil der offiziellen Jury und das Votum der "Marler Gruppe" dimensionieren die Wettbewerbsbeiträge und machen sie in vielen Fällen für den Preisträger besser nutzbar. Seit 1968 ist die "Marler Gruppe" fester Bestandteil beim jeweiligen Adolf-Grimme-Preis und nutzt, nicht nur während des Wettbewerbs, die Angebote und Hilfestellungen des Adolf-Grimme-Institutes. In einzelnen, glücklichen Fällen entstand eine befruchtende Rückkopplung zwischen Preisträgern, TV-Verantwortlichen und der "Marler Gruppe", dafür stehen u.a. Heinrich Breloer, Marlene Linke, Hans-Dieter Grabe, H.Ungureit.

Kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Fernsehen

Die Mitwirkung beim Grimme-Preis ist nur ein Standbein der permanenten Arbeit der "Marler Gruppe", ausschlaggebend für die kritische Beschäftigung mit dem TV sind nach wie vor die vierwöchentlichen Zusammenkünfte, die, mit einem durchaus zufriedenen Rückblick, ähnlichen Veränderungen unterworfen waren wie die Sehgewohnheiten der Zuschauer. Programmkonsum unterliegt heute anderen Mechanismen als in der Anfangsphase der "Marler Gruppe", diese Entwicklung findet ihren Niederschlag in den neu ausgerichteten Kurszielen wieder. Zu den auffälligsten Konstanten der "Marler Gruppe", durchaus selbstkritisch zu sehen, zählt der seit vielen Semestern gleich gebliebene Teilnehmerkreis; hier spiegelt sich die Entwicklung wider vom "Erlebnisfernsehen" der früheren Jahre hin zum Gebrauchsfernsehen von heute. Neil Postman lässt grüßen. Der repräsentativen Querschnitt fiel dem Zeitgeist zum Opfer. Jugendliche und junge Erwachsene schreiben sich nur noch selten für die "Marler Gruppe" ein. Für sie ist Medienpädagogik "kein Thema mehr". Der Nutzungswandel des TV durch den medienüberfluteten Zuschauer reduzierte den bewussten und selektiven TV-Gebrauch auf eine Sozialgeräuschkulisse", mit der Konsequenz, dass sich zunehmend weniger Zuschauer aktiv und kritisch mit dem Massenmedium befassen. In Zeiten mit über 24 öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Kabelprogrammen, mit Videorekordern, Videospielen und PCs sind viele „zweidimensionale, elektronische Wirklichkeit" nutzbar; das tägliche Fernsehprogramm steht in dieser Konkurrenz. An diesen veränderten Seh- und Nutzungsweisen orientierten sich die Kursinhalte in den letzten Jahren, Spezialisierung und Begrenzung auf einzelne Programmgenres bestimmen die Arbeit. Beispiele für diese Neuausrichtung sind u.a.: die Analysen und der direkte Vergleich von Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen und der kommerziellen Sender; die Klassifizierung der Sparte "Unterhaltung" und die sich daran anschließende Festschreibung eines Kriterienkataloges; Thesen zur Sparte "Dokumentation". Seit zwei Semestern hinterfragt die "Marler Gruppe" Kinder- und Jugendprogramme und plant, mit einem umfassenden Fragenkatalog die Sender zum Stellenwert, zu Absichten und pädagogischen Ansätzen, falls vorhanden, zu befragen.

Als gelungenes Beispiel für die Rückkopplung unserer Medienarbeit in den gesellschaftlichen Raum mag die 1992 von der "Marler Gruppe" auf Platz eins gesetzte Sendung "Zeichen der Zeit: Kokain im Supermarkt" dienen. Die Diskussion bei unserer Platzfindung verstärkte den Wunsch, das Thema des Films einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion anzubieten. So regten wir eine vierteilige Reihe zum Thema "Legalisierung von Drogen" an, die die "insel", in Kooperation mit der Marler Drogenberatung, durchführte. Nach wie vor steht der "richtige Wahlgebrauch" des TV als Leitgedanke für die Aktivitäten der "Marler Gruppe", die Umsetzung in den Alltag des Zuschauers wird schwieriger. Ständige Screen-Education ist schwerer geworden, zerreibt sich zwischen den Ansprüchen der Erwachsenenbildung und den ausufernden Freizeit- und Erlebnis/Konsumbedürfnissen der Menschen. Exkursionen in Sachen fernseheigener Qualitäten und lebendiger Präsentationsformen nehmen beim Zuschauer nicht mehr die hervorgehobene Stellung der "frühen Jahre" ein. Der Konsumentenalltag und die fast unüberschaubare Medienvielfalt überrollen die Menschen. Der Umgang und die zielorientierte Nutzung des Mediums, das längst mehr ist als nur Fernsehen, will daher nach wie vor und mit neuen Inhalten erlernt sein, ist nach wie vor eine dynamische Herausforderung für die "Marler Gruppe". Daher ist noch immer aktuell, was Peter von Rüden, ehemaliger Leiter des Adolf-Grimme-Institutes, in einem Interview mit VhSiW im Februar 1984 sagte: "Die Bezugsgrößen für den "richtigen" Wahlgebrauch sind nicht abstrakt festzulegen. Dies ist kein Argument gegen Medienpädagogik, sondern ein Plädoyer für eine Medienpädagogik, die aus dem Lebenszusammenhang konkreter Menschen und Gruppen argumentiert und die die jeweiligen gesellschaftlichen Interessen der Bevölkerung mit bedenkt."Geschulte im Sehen - 25 Jahre "Marler Gruppe"
Fernseharbeit an der VHS - erschienen in: VHS VI '93
von Jochen Stelzer

Die "Marler Gruppe" ist seit 25 Jahren ein Forum kritischer Fernsehzuschauer, die parallel zu den "professionellen" Jurys ihre eigenen Programm-Bewertungen vornehmen und kontinuierlich den Dialog mit den Produzenten suchen. Jochen Stelzer ist seit Jahren Sprecher dieser von ihm als durchaus "repräsentativ" bewerteten Gruppe von Zuschauerjuroren. Er schildert u.a. die ganzjährige Arbeit der "Marler Gruppe" innerhalb des Medien-Programms der Marler Volkshochschule, "die insel". Und er beschreibt die Schwierigkeiten, das erworbene Wissen über die Bedingungen des Fernseh-Machens mit einer den Zuschauerinteressen verpflichteten Bewertung von Sendungen zu vereinbaren.

Das "Projekt Fernsehen", der Adolf-Grimme-Preis, feiert sein 30 jähriges Jubiläum. Ein bemerkenswertes Projekt der Volkshochschule, das hier in Marl ganz unterschiedliche Wirkungen auf die Medienarbeit der "insel" ausübt. Herausragendes Beispiel für Kontinuität und flexible Anpassung an die sich permanent verändernden Sehgewohnheiten und Ansprüche der Zuschauer ist die "Marler Gruppe", die fernsehkritischen Arbeitsgemeinschaft der "insel". Bert Donnepp, Adolf-Grimme-Preis und die "Marler Gruppe" sind nicht voneinander zu trennen, sie sind unterschiedliche Teile seiner umgesetzten, medienpädagogischen Vision. Schon früh erkannte Bert Donnepp, damaliger Leiter der Marler VHS "insel", dass die Mediennutzung auf vielfältige Weise eingebunden ist in die sich permanent ändernde menschliche Wirklichkeit. Medien transportieren, interpretieren, systematisieren und verfälschen Realitäten unterschiedlichster Art. Die in diesem Prozess ablaufende Wechselwirkung zwischen Zuschauer und Einfluss gewinnendem Massenmedium galt es zu hinterfragen, Mechanismen aufzuzeigen und einen bewussten Umgang mit den Programmangeboten zu erlernen; ein originäres Aufgabengebiet der Erwachsenenbildung.

Als 1963 der "Grimme-Preis" seinen festen Ort in Marl fand, lag es auf der Hand, die Marler Zuschauer gezielt mit dem noch jungen Medium zu konfrontieren. Der Nährboden dazu war ein-Marlig: Bert Donnepp; eine experimentierfreudige "Insel"; Rückhalt im Stadtrat; aufgeschlossene Bürger; langjährige Kursangebote in den Bereichen "Radio", "Film"; "Fernsehen"; Dialoge mit Publizisten aller Couleur. (Nachzulesen in "Für ein kulturelles Stadtbewusstsein" von Bert Donnepp.) Aber auch das gesellschaftliche Umfeld war "reif" für medienpädagogische Arbeit mit dem Zuschauer. So wünschte Adorno 1963: kritische Fernseh-Organisationen in Form von Fernsehteilnehmer-Organisationen, die nach wie vor eine Aufgabe für die gesamte Erwachsenenbildung sind."

Und Prof. Dr. Karl Holzamer, Gründungsmitglied des ZDF, fasste seine Erwartungen an eine methodische kritische Auseinandersetzung mit dem Programm so zusammen: "... das die Erziehung zum sogenannten Wahlgebrauch des Fernsehangebotes Kern der Bildungsbemühungen ist." In diesem aufgeschlossenen Klima fiel beim 5. Adolf-Grimme-Preis der Startschuss für die "Marler Gruppe", für ständige Screen-Education, für permanente Auseinandersetzung mit Produktionsgrundlagen, Wirkungsmöglichkeiten und mit besonderen aktuellen Themen des Fernsehens. Die Zuschauer, für die letztlich das TV-Programm gemacht wird, sollten zu Wort kommen. Neben den Marler Fernsehzuschauern beteiligte sich erstmals eine Arbeitsgemeinschaft fernsehkritischer Bürger der "insel" an den öffentlichen Sichtungen des Wettbewerbs und gab am Ende einer langen Sichtungswoche ihr fundiertes Votum ab. Die Resonanz darauf war bemerkenswert, nicht nur in der Marler Ortspresse. Logische Konsequenz dieses erfolgreichen Starts: Ausbau dieser Medienarbeit und Institutionalisierung der "Marler Gruppe" zur festen Arbeitsgemeinschaft der "insel", mit einer starken inhaltlichen Bindung an den Adolf-Grimme-Preis und Zielen der Medienpädagogik der Erwachsenenbildung, die Hans Tietgens so formulierte: „Das Fernsehen hat viele Sprachen. Damit sie bekannt und gekonnt werden, bedarf es der Kommunikation über das, was das Fernsehen anbietet." Aus der Beschäftigung mit den TV-Wettbewerbsproduktionen wuchs der Wunsch, sich regelmäßig und umfassend mit dem Fernsehen, mit seinen Rahmenbedingungen und seiner Wirkung auseinanderzusetzen.

Repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt

Die Arbeitsweise der "Marler Gruppe" entwickelte sich in den folgenden Jahren schnell über die reine Beteiligung am Grimme-Preis hinaus und etablierte sich im Programm der "insel". Ihre medienkritische Ausrichtung mauserte sich zu einer kontinuierlichen Beschäftigung mit dem aktuellen Fernsehprogramm, mit ausgewählten Fernsehproduktionen, Produzenten und Produktionsbedingungen. Ihre Kompetenz und Aussagekraft schöpfte die "Marler Gruppe" aus ihrem tatsächlich vorhandenen repräsentativen Querschnitt der Marler Bevölkerung. Erreicht wurde diese Mischung durch gezielte Ansprache über die Presse, das Kursprogramm, persönliche Ansprache, Flüsterpropaganda, Werbung an den Berufsschulen, in den Gewerkschaften (mit einer beabsichtigten Rückkopplung in die Arbeiterschaft der zwei größten Arbeitgeber Marls.) Dieser Zusammensetzung verdankt die "Marler Gruppe" ihre 25-jährige Lebendigkeit, ihre Glaubwürdigkeit und die Kontinuität ihrer Arbeit.

Anfang der 70er Jahre formte sich ein Arbeitskonzept der "Marler Gruppe", das die Kursarbeit über viele Semester prägte. Es gab keine Curricula für die ständige medienkritische Fernseharbeit in der Erwachsenenbildung, die jeweiligen Kursleiter entwickelten daher in Absprache mit dem zuständigen Fachbereichsleiter Vorgaben und Ziele für die anstehenden Semester. Zentraler Dreh- und Angelpunkt war die breitangelegte Diskussion einzelner Sendungen. Jeder Kursteilnehmer stellte seine Beiträge der vergangenen Wochen vor, die er als bemerkenswert, außergewöhnlich oder innovativ, empfand. In einzelnen Fällen schaute sich die Gruppe Videoaufzeichnungen dieser Sendungen an. Diese teilnehmerorientierte Arbeitsweise deckte das ganze Spektrum ab; keine Programmsparte blieb unbeachtet. Im Verlauf der Semester erarbeiteten sich die Kursteilnehmer eigene Kriterien zur Beurteilung der Sendungen. Da in den frühen Jahren des Grimme-Preises die "insel" Ausrichter des "Marler Fernsehfestivals" war, standen den Kursleiter und der "Marler Gruppe" ein Kreis von fernseh- und Grimme-Preis erprobten hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeitern als Ansprechpartner zur Verfügung, die eine enge Vernetzung zum Preis und zur Medienarbeit der "insel" und des DVV sicherstellten. Regelmäßige Kursarbeit, Besuche beim WDR und ZDF, Gespräche mit Programmverantwortlichen und Preisträgern führten zu einer Professionalisierung der „Marler Gruppe", verschafften ihr einen kritischen Blick hinter die Kulissen und in die Redaktionen. Das Fernsehen und seine Programme wurden zunehmend nüchtern betrachtet, als ein von Menschen gemachtes, Interessen unterliegendes und am Konsum orientiertes Medium gesehen, das eine mögliche Form von "elektronischer Wirklichkeit" anbietet, die der Zuschauer mit gebotener Distanz und kritischer Auseinandersetzung nutzen soll. Die behutsam vorangetriebene Professionalisierung war häufig Gegenstand gruppeninterner Diskussionen. Der Status des Laien, des "normalen Fernsehzuschauers", rieb sich mit dem angesammelten Wissen um Mechanismen und Wirkungen des Mediums Fernsehen. Die "Marler Gruppe" war, mit Recht, stolz auf ihr Image als "Arbeitsgemeinschaft fernsehkritischer Bürger", konnte aber auch nicht mehr leugnen, dass die intensive Kursarbeit Wissensspuren hinterließ. Diese Spannung befruchtete über viele Jahre die Arbeit und machte den besonderen Reiz aus, den die "Marler Gruppe" auf ganz unterschiedliche Gesprächspartner ausübte.

"Marler Gruppe" stellte Dialog mit den Zuschauern her

Der Adolf-Grimme-Preis bot jährlich die mediale Bühne für die "Marler Gruppe", diese gruppeninterne Spannung zwischen "noch Laie" und "semiprofessioneller Fernsehkritik" in das Marler Fernsehfestival einzubringen. Sie verstand und versteht sich beim Wettbewerb als Teil eines Kommunikationsprozesses, mittelbar oder unmittelbar, in dem der sehgeschulte Zuschauer sich kritisch mit dem Fernsehen und seinen Verantwortlichen auseinandersetzte, das Fernsehen und die Fernsehschaffenden aber ebenso Gelegenheit haben, sich mit dem Publikum - sei es hoch spezialisiert, sei es "der einfache Zuschauer" - zu beschäftigen. Die "Laienjury", wie sie beim Wettbewerb oft betitelt wurde, setzte sich aus einem Querschnitt aller Kursteilnehmer der "Marler Gruppe" zusammen. 16 bis 20 "normale Zuschauer" opferten eine Woche ihres Jahresurlaubs, klinkten sich aus den Familien aus oder ließen sich "freistellen", um beim Grimme-Preis die Stimme und Sichtweise des kritischen Fernsehzuschauers einzubringen. Der Aufwand lohnte. In vielen Wettbewerben stellte die "Marler Gruppe" den Dialog zwischen den angereisten Fernsehverantwortlichen, Regisseuren, Autoren, Kameraleuten und den Zuschauern her. Intensive Diskussionen zwischen den Wettbewerbsvorführungen und in den Pausen, auf hohem Niveau und mit entwaffnender Direktheit, verhalfen der Gruppe zu einem beachtlichen Ansehen und machten sie zu einem gesuchten Gesprächspartner. Es verwundert daher kaum, wenn das Votum der "Marler Gruppe", publiziert mit dem Urteil der Jury "Allgemeine Programme" und verlesen bei der Preisverleihung, zunehmend an Beachtung bei den Geehrten und in den Sendeanstalten fand. Hans Kwiet, Hauptabteilung Fernsehspiel beim Sender Freies Berlin, schrieb dazu zum 19. Adolf-Grimme-Preis: "Gerade in der gegenwärtigen Zeit, wo die Zweifel an der Qualität einiger Fernsehproduktionen lautstark vorgetragen werden, um vermutlich den immer zahlreicher werdenden und oft dubiosen Fremdeinkäufen eine Begründung zu geben, nehme ich das Votum der fernsehkritischen Marler Bürger für unsere heimischem Autoren und Fernsehmacher besonders gerne auf. "Wettbewerbsleitung, das seit 1974 in Marl ansässige Adolf-Grimme-Institut und die "insel" erkannten die Chance, die die Mitwirkung der "Marler Gruppe" am Grimme-Preis bot: Das Urteil der offiziellen Jury und das Votum der "Marler Gruppe" dimensionieren die Wettbewerbsbeiträge und machen sie in vielen Fällen für den Preisträger besser nutzbar. Seit 1968 ist die "Marler Gruppe" fester Bestandteil beim jeweiligen Adolf-Grimme-Preis und nutzt, nicht nur während des Wettbewerbs, die Angebote und Hilfestellungen des Adolf-Grimme-Institutes. In einzelnen, glücklichen Fällen entstand eine befruchtende Rückkopplung zwischen Preisträgern, TV-Verantwortlichen und der "Marler Gruppe", dafür stehen u.a. Heinrich Breloer, Marlene Linke, Hans-Dieter Grabe, H.Ungureit.

Kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Fernsehen

Die Mitwirkung beim Grimme-Preis ist nur ein Standbein der permanenten Arbeit der "Marler Gruppe", ausschlaggebend für die kritische Beschäftigung mit dem TV sind nach wie vor die vierwöchentlichen Zusammenkünfte, die, mit einem durchaus zufriedenen Rückblick, ähnlichen Veränderungen unterworfen waren wie die Sehgewohnheiten der Zuschauer. Programmkonsum unterliegt heute anderen Mechanismen als in der Anfangsphase der "Marler Gruppe", diese Entwicklung findet ihren Niederschlag in den neu ausgerichteten Kurszielen wieder. Zu den auffälligsten Konstanten der "Marler Gruppe", durchaus selbstkritisch zu sehen, zählt der seit vielen Semestern gleich gebliebene Teilnehmerkreis; hier spiegelt sich die Entwicklung wider vom "Erlebnisfernsehen" der früheren Jahre hin zum Gebrauchsfernsehen von heute. Neil Postman lässt grüßen. Der repräsentativen Querschnitt fiel dem Zeitgeist zum Opfer. Jugendliche und junge Erwachsene schreiben sich nur noch selten für die "Marler Gruppe" ein. Für sie ist Medienpädagogik "kein Thema mehr". Der Nutzungswandel des TV durch den medienüberfluteten Zuschauer reduzierte den bewussten und selektiven TV-Gebrauch auf eine Sozialgeräuschkulisse", mit der Konsequenz, dass sich zunehmend weniger Zuschauer aktiv und kritisch mit dem Massenmedium befassen. In Zeiten mit über 24 öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Kabelprogrammen, mit Videorekordern, Videospielen und PCs sind viele „zweidimensionale, elektronische Wirklichkeit" nutzbar; das tägliche Fernsehprogramm steht in dieser Konkurrenz. An diesen veränderten Seh- und Nutzungsweisen orientierten sich die Kursinhalte in den letzten Jahren, Spezialisierung und Begrenzung auf einzelne Programmgenres bestimmen die Arbeit. Beispiele für diese Neuausrichtung sind u.a.: die Analysen und der direkte Vergleich von Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen und der kommerziellen Sender; die Klassifizierung der Sparte "Unterhaltung" und die sich daran anschließende Festschreibung eines Kriterienkataloges; Thesen zur Sparte "Dokumentation". Seit zwei Semestern hinterfragt die "Marler Gruppe" Kinder- und Jugendprogramme und plant, mit einem umfassenden Fragenkatalog die Sender zum Stellenwert, zu Absichten und pädagogischen Ansätzen, falls vorhanden, zu befragen.

Als gelungenes Beispiel für die Rückkopplung unserer Medienarbeit in den gesellschaftlichen Raum mag die 1992 von der "Marler Gruppe" auf Platz eins gesetzte Sendung "Zeichen der Zeit: Kokain im Supermarkt" dienen. Die Diskussion bei unserer Platzfindung verstärkte den Wunsch, das Thema des Films einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion anzubieten. So regten wir eine vierteilige Reihe zum Thema "Legalisierung von Drogen" an, die die "insel", in Kooperation mit der Marler Drogenberatung, durchführte. Nach wie vor steht der "richtige Wahlgebrauch" des TV als Leitgedanke für die Aktivitäten der "Marler Gruppe", die Umsetzung in den Alltag des Zuschauers wird schwieriger. Ständige Screen-Education ist schwerer geworden, zerreibt sich zwischen den Ansprüchen der Erwachsenenbildung und den ausufernden Freizeit- und Erlebnis/Konsumbedürfnissen der Menschen. Exkursionen in Sachen fernseheigener Qualitäten und lebendiger Präsentationsformen nehmen beim Zuschauer nicht mehr die hervorgehobene Stellung der "frühen Jahre" ein. Der Konsumentenalltag und die fast unüberschaubare Medienvielfalt überrollen die Menschen. Der Umgang und die zielorientierte Nutzung des Mediums, das längst mehr ist als nur Fernsehen, will daher nach wie vor und mit neuen Inhalten erlernt sein, ist nach wie vor eine dynamische Herausforderung für die "Marler Gruppe". Daher ist noch immer aktuell, was Peter von Rüden, ehemaliger Leiter des Adolf-Grimme-Institutes, in einem Interview mit VhSiW im Februar 1984 sagte: "Die Bezugsgrößen für den "richtigen" Wahlgebrauch sind nicht abstrakt festzulegen. Dies ist kein Argument gegen Medienpädagogik, sondern ein Plädoyer für eine Medienpädagogik, die aus dem Lebenszusammenhang konkreter Menschen und Gruppen argumentiert und die die jeweiligen gesellschaftlichen Interessen der Bevölkerung mit bedenkt."


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