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Jochen Stelzer
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Bis heute Abend im TM

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Rettungsloser Optimist in der insel
Jochen Stelzer ist ein beeindruckender Mann. Nicht nur, weil er sich selbst als „rettungslosen Optimisten“ bezeichnet. Das ist kaum zu glauben, denn für andere gibt seine Lebenssituation wirklich keinen Anlass zum Optimismus. Er leidet an „progressiver Muskeldystrophie“, einem fortschreitenden Muskelschwund, der ihn schon mit 16 Jahren um seine Gehfähigkeit und in den Rollstuhl brachte. Nach drei schweren Operationen im Jahr 2006 ist er jetzt bewegungsunfähig dauernd ans Bett gefesselt und wird künstlich beatmet. Trotzdem wirkt er heiter und eben – optimistisch. Den Grund macht er schnell deutlich: „Ich fühle mich nicht so alt wie 67 sondern höchstens wie 40 und war immer viel mit jungen Leuten zusammen.“ Jochen ist an allem Geschehen in seiner Heimatstadt und in der Welt interessiert, liest täglich die Marler Zeitung und andere Zeitungen, schrieb mit Hilfe eines Spracheingabeprogrammes seine Biographie, äußert sich zu aktuellen Themen mit wohl durchdachten Leserbriefen und hat noch mit vielen Menschen Kontakt. Dies hängt mit seinen vielen Aktivitäten gesellschaftspolitischer Art zusammen, die er im Rollstuhl bewältigte.
Eine ganz besondere Rolle spielt dabei die insel. So heißt die Marler Volkshochschule, die schon 1955 als erste in Deutschland ein eigenes modernes Haus erhielt, was deutschlandweit Beachtung fand. Ihr sehr aktiver Leiter Dr. Bert Donnepp gab übrigens den Anstoß für den „Grimme-Preis“, der seit 1964 in Marl jährlich für Qualitätsfernsehen vergeben wird. Dr. Donnepp hatte auch dadurch viele ausgezeichnete Kontakte zu Medienvertretern, und zwar auch zum ZDF-Chefredakteur Reinhard Appel. Und dies führte dazu, dass die von ihm geleitete Sendung „Bürger fragen – Politiker antworten“ zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr im ZDF aus dem neuen großen insel-Saal gesendet werden sollte.
Jochen erinnert sich noch sehr gut: „ Zum Thema der Sendung „Europa“ sollten Marler Bürger den damaligen Spitzenpolitiker Joop den Uyl aus den Niederlanden befragen. Aus allen Kursen der insel wurden 12 Mitglieder – sowohl Teilnehmer als auch Kursleiter - in eine Vorbereitungsgruppe gewählt. Es fanden 5 Vorbereitungstreffen statt, und die Redaktion lieferte uns Material zu diesem Thema und zum Politiker. Danach wurden aus der Gruppe 8 Personen ausgewählt, die bei der Sendung Fragen stellen sollten. Das waren neben mir Renate Büttner, Else Schlüter Klein-Essing, Ruth Schofmann, Jupp Overbeck, Norbert Pfänder und Horst Blossey. Und dann kam endlich der große Tag. Es war der 27.10.1978. Wir mussten schon früh da sein, wurden kräftig geschminkt, gepudert, die Haare wurden geföhnt und gebürstet. Wir waren wie gewünscht in salopper Kleidung, fühlten uns gut vorbereitet, aber waren alle doch etwas nervös. Dann wurden wir in den großen insel-Saal geführt. Das Publikum – vielleicht 80 Leute – saß schon auf einer Art Tribüne, die an der Kopfseite aufgestellt worden war. Wir „Frager“ hatten unsere Plätze unten genau wie die Kameras. Und dann passierte kurz vor Beginn der Live-Sendung noch was Unerwartetes. Ein Scheinwerfer war auf einem tragbaren Mast versehentlich unter einer Sprinkler-Düse postiert worden. Bei voller Watt-Leistung tat diese dann ihren Dienst, die Birne platzte und die beiden Hausmeister mussten sich beeilen, die ganze Sprinkler-Anlage abzustellen. Dann ging’s endlich los. Der Assistent von Reinhard Appel hatte mich vorher informiert, dass ich quasi als „Eisbrecher“ als erster vorgestellt und meine erste Frage stellen sollte. Das klappte ganz gut. Die Zeitungen schrieben später, dass es sich um eine gute informative Sendung, eine der besten aus dieser Serie, gehandelt habe.“                                                                                 Jochen erinnert sich weiter, dass es nach der Sendung im Foyer der insel ein großes Buffett gegeben habe, zu dem auch die Zuschauer eingeladen waren. Da gab es schon erste telefonische Reaktionen auf die Sendung. 6 Zuschauer ärgerten sich über die Aufkleber auf dem Rollstuhl, die teilweise zu sehen waren, wenn der Europabegeisterte Joop den Uyl humorvoll und in ausgezeichnetem Deutsch antwortete. Was da so drauf stand? „Atomkraft nein danke. Stoppt Strauss. Was uns junge Menschen eben damals bewegte“ sagt Jochen.
Inzwischen war er vom Teilnehmer verschiedener Kurse, hauptsächlich im Bereich Gesellschaftspolitik und Medien, zum Kursleiter geworden. Als Sprecher und Kursleiter der „Marler Gruppe“ durfte er einmal im Theater der Stadt Marl bei der Grimme-Preis-Verleihung den Publikumspreis übergeben. Dabei traf er 1981 auch Reinhard Appel wieder, der sich noch gut an ihn erinnerte und ihn zu einer weiteren von ihm moderierten Sendung „dem Kamingespräch“ einlud. Diese Live-Sendung wurde im Kaminzimmer in der Villa Hammerschmidt, dem damaligen Sitz des Bundespräsidenten in Bonn aufgenommen. Gesprächsteilnehmer zum Thema „wohin steuert die Gesellschaft“ war neben dem damaligen Bundespräsidenten Dr. Karl Carstens und anderen auch der später von der RAF ermordete Vorsitzende der Deutschen Bank, Dr. Alfred Herrhausen, der mit anpackte, um den Rollstuhl in den ersten Stock zu tragen.
All das hat Jochen stark beeindruckt und macht ihn zu recht auch stolz. Aber viel wichtiger ist ihm, das ihn die Volkshochschule erst als Kursteilnehmer und später durch seine vielen verschiedenen Funktionen in der insel stark gemacht und ihm trotz seiner körperlichen Einschränkungen Selbstbestätigung gegeben hat. Das führte auch dazu, dass er sich stärker politisch engagierte. So wurde er in den Jahren 1994 bis 2004 für die SPD in Drewer-Süd direkt in den Stadtrat gewählt, war 3 Jahre stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, Vorsitzender und Mitglied verschiedener Ausschüsse und leitete zusammen mit dem CDU-Mitglied Karl-Heinz Dargel eine insel-Arbeitsgemeinschaft, die den 1. Stadtführer für Behinderte erstellte.  
Jochens Augen leuchten, wenn er von „dem offenen Klima“ redet, das damals in Marl herrschte, und von den vielen engagierten Frauen und Männern spricht, die ihm begegnet sind und mit denen er immer noch Kontakt hat. Und hier ist er wieder: der Optimist. Er ist froh und dankbar, dass er von den vielen positiven Erfahrungen Einiges an die Gesellschaft zurückgeben konnte.
Fazit: Weitere „rettungslose Optimisten“ würden nicht nur der insel, sondern der ganzen Stadt Marl guttun …
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