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Jochen Stelzer
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Referat "Nimm teil. Habe Mut"

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22. Juni 2018 halte ich das Einführungsreferat bei einem Symposiun zum Thema "NIMM TEIL:HABE MUT". Eine Veranstaltung von Teilzeitstudenten des 4.Jahres Szialpädagogik an der Universität "Saxion" Enschede.
Nimm teil:habe Mut
Begrüßung
Ein herzliches Hallo. Ich freue mich sehr, das Einführungsreferat zu ihrem Symposium halten zu dürfen. Ich bin Jochen Stelzer.
Ich wurde am *13.9.1951 in Marl, Nordrhein-Westfalen, geboren;
Mit 7, 8 Jahren wurden erste augenfällige, körperliche Leistungsdefizite sichtbar, die sich im Lauf der nächsten Jahre deutlich verstärkten;
1958 Einschulung in eine katholische Grundschule;
1965 Diagnose progressive Muskeldystrophie, ein Muskelschwund; [Perspektive: Verlust der Gehfähigkeit während der Pubertät, Lebenserwartung ca. 20-23 Jahre.]
1966 Hauptschulabschluss und Beginn einer Lehre zum Goldschmied;
1967 Abbruch der Lehre durch Verlust der Gehfähigkeit; bin dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen;
1975 Beginn meines umfassenden sozial- und gesellschaftlichen Engagements durch Eintritt in die SPD;
1984 Verleihung der Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschlands;
1985 Einzug in die eigene rollstuhlgerechte Wohnung;
1988 erneute Muskeldystrophie-Typisierung mit einer modernen Genanalyse; Festlegung als „Typ Becker“ mit milderem Krankheitsverlauf;
1994 Direktwahl als Stadtrat in den Rat der Stadt Marl;
1999 Wiederwahl in den Rat der Stadt Marl;
2006 mehrere Operatoren und eine lebensbedrohliche Lungenentzündung verändern mein Leben substanziell. Seither bin ich dauerhaft bettlägerig und werde über ein Tracheostoma künstlich beatmet.
Das Thema „Nimm teil - habe Mut“ könnte als Überschrift über mein Leben stehen. Ich liebe mein Leben trotz der vielen Handicaps. Wie sie im Verlauf meines Referates erfahren werden, zeichnet sich meine Lebensbilanz, ganz entscheidend dadurch aus, dass ich den Mut aufbrachte, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen und selbstverantwortlich zu gestalten.

Exemplarische Erfahrungen und Einsichten aus meinem Leben
Schaue ich bilanzierend auf mein bisheriges Leben, erkenne ich zwei wichtige Rahmenbedingungen, die für mein Leben von herausragender Bedeutung und prägend waren.
Erstens: Gesetze, wie  das Bundesteilhabegesetz, können nur den rechtlichen Rahmen abstecken! Die individuelle Ausnutzung dieser Rahmenbedingungen hängt ganz entscheidend vom eigenen Willen zur lebendigen Teilhabe ab und von dem Mut, das eigene Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten.
Zweitens: Mein unbedingter Wille, mich nicht auf die mir „zugewiesenen Lebensräume“ zu beschränken und mein Leben selbst in die eigenen Hände zu nehmen. „Nimmt Teil am Leben und gestalte es eigenverantwortlich“ wurde zur Leitlinie für meinen Lebensweg. Und Mut zahlt sich aus. Ohne eine große Portion Mut, Unbekanntes zu wagen und kalkulierbare Risiken einzugehen, hätte ich nie dieses zutiefst befriedigende Leben erreichen können.
Letztlich stärkt „Mut haben“ und „Teil nehmen“ die Persönlichkeit.

Zu Beginn meiner Pubertät erfuhr ich meinen immer schwächer werdenden Körper, den Verlust an Muskelkraft, als ein riesengroßes, verstörendes und dramatisch einschränkendes Handicap. Meine sozialen Kontakte nahmen ab, da ich nicht, oder nur sehr mangelhaft, teilnehmen konnte. Ich bekam das Stigma „Behinderter“.
Mit 16 Jahren verlor ich meine Gehfähigkeit. Der Rollstuhl musste fortan als Fußersatz herhalten und ich machte dabei eine erstaunliche Entdeckung: Mit dem Rollstuhl war ich mobiler und mein Aktionsradius erweiterte sich enorm. Das belebte mit erstaunlich positiver Wirkung meinen Tagesablauf und eröffnete unbekannte Wege, neue Kontakte zu knüpfen. Fast täglich rollte ich selbst mit meinem Rollstuhl unsere kleine Siedlungsstraße auf und ab; sprach Nachbarn an; begrüßte Nachbarskinder, wenn sie aus der Schule heimkamen; scheute mich auch nicht, unbekannte Menschen anzusprechen, wenn ich sie häufiger antraf.
Eingeschlafene Beziehungen frischten auf und gewannen an belebender Intensität. Neue Beziehungen wuchsen. Ich organisierte regelmäßige Schachrunden; gemeinsames Musik hören mit der Clique auf dem Spielplatz; traf mich zum Kartenspielen bei „Pommes Dieter“; feierte Kellerpartys, bei denen ich für gute Musik sorgte; diskutierte mit den neu gewonnenen Freunden engagiert und emotional die politische Großwetterlage; hängte mich mit dem Rollstuhl ans Fahrrad von Marcel, wenn die Clique zum Fußballplatz, zum Kino oder zur Disco wollte. Ich nahm teil an den vielseitigen Gruppenunternehmungen und empfand mich als „ganz normales Mitglied“ unseres Freundeskreises.
Ich erkannte aber auch, wie wichtig Mobilität ist. Die Genehmigung eines elektrischen Rollstuhls sicherte mir diese individuelle Mobilität. Mein Aktionsradius erweiterte sich auf das ganze Stadtgebiet.
Mit 21, 22 Jahren lebte ich nach wie vor bei guter Gesundheit, entgegen aller ärztlicher Prognosen. Ich sollte ja nicht viel älter werden, sagte die Statistik. Und darauf hatten sich meine Eltern und ich uns eingestellt. Es gab keine wirkliche Zukunftsplanung für mein Älter werden!
Mit 25, 26 Jahren durchlief ich für eine kurze Zeitspanne eine Sinnkrise. Die Cliquenmitglieder wurden „flügge“ und so versandeten die gemeinsamen Aktivitäten nach und nach. Plötzlich fehlte in meinem bisherigen Leben etwas Wesentliches. Ich litt unter dieser empfundenen Leere! Ich fühlte mich minderwertig und irgendwie „nicht mehr mitten im Leben und mit dabei!“ – Mit einer umfassenden Standortbestimmung überwand ich diese Phase. Dabei befragte ich mich und mein bisheriges Leben sehr kritisch. Was erwartete ich von meinem weiteren Leben, das unter dem mächtigen Diktat der Muskeldystrophie steht? Am Ende dieser sehr ehrlichen Selbstreflexion erkannte ich, dass mein Leben eine unbestimmt lange Zeit weitergehen wird. Diese „geschenkte Lebenszeit“ sollte nicht verschwendet werden. Die notwendige Abnabelung vom Elternhaus bekam dabei entscheidende Priorität zugewiesen.
Weitere vielversprechende Erfahrungen außerhalb meines bisher bekannten Aktionsradius sammelte ich an unserer örtlichen Volkshochschule. Mich interessierte die Weltraumfahrt und die Philosophie. Also belegte ich Astronomiekurse und nahm an philosophischen Diskursen teil. Bei der Umsetzung dieser Aktivitäten stieß ich auf eine ganze Reihe von baulichen und organisatorischen Hürden. Mit einer großen Portion Ehrgeiz überwand ich diese Barrieren. Dieses Erfolgserlebnis machte mir Mut, mich auch in anderen Bereichen aktiv einzubringen. Mein Vater vermittelte mir einen Kontakt zur SPD. Bei den Jungsozialisten machte ich mir recht schnell einen guten Namen. Dabei erkannte ich die Faszination der aktiven Mitgestaltung von Politik. Bei anstehenden Vorstandswahlen wagte ich eine Kandidatur zum Beisitzer,  … und wurde gewählt! In den kommenden Jahren legte ich dann bei den Jungsozialisten eine ganz ordentliche Karriere hin. Mein Engagement fiel auch innerhalb der SPD positiv auf. Auch hier begann ab Mitte der siebziger Jahre meine weitere Parteikarriere. Sie brachte mich in den folgenden Jahrzehnten in ganz unterschiedliche Vorstandsfunktionen.
So um 1980 herum entstand mein Traum, mich für die SPD als Stadtrat wählen zu lassen. Neben meinem Willen und meiner Bereitschaft zur politischen Mitgestaltung städtischen Lebens reizte mich das „Eindringen als Rollstuhlfahrer“ in politische Spitzenfunktionen. Mir lag viel daran, Vorurteile abzubauen. Zudem sah ich die Chance, positive Akzente für die „Teilhabe“ von Menschen mit Handicaps setzen zu können. (In den folgenden Jahren plante, verantwortete und organisierte ich dann u.a. als Kursleiter an unserer Volkshochschule die Erstellung des ersten „Wegweiser  für Behinderte durch Marl“; organisierte pressewirksame Unterschriftenaktionen zur Anschaffung und Inbetriebnahme des ersten Behindertentaxis in Marl; sorgte als D.J. in einer „Behindertendiskothek“ für gute Laune; deckte Ungereimtheiten in einer Werkstatt für Behinderte auf; thematisierte mit vielen Leserbriefen bauliche Barrieren in unserer Stadt; leitete als Kursleiter eine Arbeitsgemeinschaft, die sich mit Problemen von Menschen mit Handicaps filmisch auseinandersetzte.)
Anfang der achtziger Jahre lebte ich immer noch im Elternhaus und dort wurde es mir langsam zu eng. Ein weiterer Traum nahm Konturen an: die eigene Wohnung und ein Leben ohne elterliche Fürsorge. Mir war recht frühzeitig klar geworden, dass die Abnabelung vom Elternhaus für mich von zentraler Bedeutung ist. Eltern leben nicht ewig und das „Hotel Mama“ ist keine wirkliche Zukunftsperspektive für ein eigenständiges, selbst verantwortetes Leben.
Bis zum Einzug in die eigene, rollstuhlgerechte Wohnung im Mai 1985 waren sehr viele Probleme zu lösen. Auch dabei verließ ich mich nicht auf den „guten Willen“ von anderen, sondern ging meine Wohnungssuche selbst an. Viel Überzeugungsarbeit war dazu nötig, um bestehende Zweifel bei der Umsetzung meines Wohnungswunsches zu überwinden. Mein schon ganz ansehnliches Netzwerk kam mir dabei sehr zugute.
Meine regelmäßig vorgenommene Standortbestimmung zeigte mir weitere vielversprechende Wege zu einem befriedigenden Leben in der Mitte der Gesellschaft auf. Ich wollte mein ausgeprägtes soziales Engagement und meine Fähigkeit, gut reden zu können, zum Lebensinhalt machen. Daraus entstand eine „WIN-WIN-Situation“ für mich und für meine Heimatstadt.
In den Jahren zwischen 1985 und 2006 engagierte ich mich konsequent in den Bereichen: SPD, katholische Kirche, Volkshochschule, Arbeiter-Samariter-Bund, im Verein für Menschen mit Behinderung, an einer Marler Gesamtschule, beim Adolf-Grimme-Fernsehpreis und in vielen kleineren und größeren Einzelprojekten. (z.B. als Nikolaus im Rollstuhl; Referent an verschiedenen weiterführenden Schulen hier in Marl, an der Zentralen Krankenpflegeschule des Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen und der Christy-Brown- Förderschule in Herten; als Podiumsteilnehmer bei unterschiedlichen Diskussionsrunden; als Mitglied der Volkshochschulkonferenz und Vorsitzender der Kursleitervollversammlung der Volkshochschule.

Einige herausragende Erlebnisse ergaben sich spontan aus meinen vielfältigen Aktivitäten. Besonders stolz bin ich dabei auf meine Fernsehauftritte. Über meine Medienaktivitäten an unserer Volkshochschule lernte ich verschiedene Redakteure des ZDF kennen. Daraus ergaben sich u.a. eine Fernsehsendung mit dem damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens an. Und durch Vermittlung des Leiters der örtlichen Volkshochschule die Teilnahme an einer weiteren ZDF Sendung. Bürger diskutierten in dieser Livesendung mit dem ehemaligen niederländischen Oppositionsführer Joop den Uyl.
Spontan reagierte ich in einem Urlaub in Bayern, als mich ein Jesuitenpater ansprach und anfragte, ob ich nicht zum UNO-Jahr der Behinderten 1981 in einem Fernsehgottesdienst des ZDF predigen wollte. Ich überlegte nur kurz und sagte zu.
Ich traute es mir zu, sehr verantwortungsvolle Positionen und Ämter zu übernehmen: z.B. als Vorsitzender im Pfarrgemeinderat einer katholischen Kirchengemeinde; als stellvertretender Vorsitzender beim Arbeiter-Samariter-Bund; als Beauftragter für den Zivildienst in einem Behindertenverein; als vielseitiger Kursleiter an der örtlichen Volkshochschule für die Bereiche Medien, Politik und Gesellschaft; als stellvertretender Vorsitzender des DPWV Marl. Von herausragender Bedeutung kam dabei meiner ersten Direktwahl 1994 als SPD Stadtrat zu. Eine zweite fünfjährige Legislaturperiode folgte. Als Mitglied der SPD-Fraktion übertrug man mir verantwortungsvolle Ämter u. a. im Jugendhilfeausschuss; im Kultur- und Krankenhausausschuss; im Werksausschuss des Zentralen Betriebshofes; als Aufsichtsrat der Verkehrslandeplatz Loemühle GmbH. Zweieinhalb Jahre lang gestaltete ich maßgeblich als stellvertretender Fraktionsvorsitzender die Arbeit der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Marl mit.
„Dem Mutigen gehört die Welt“, mit dieser Einstellung erreichte ich ungeahnte Höhen und Erfolge. Mir gab und gibt diese Lebenseinstellung ein saugutes Gefühl und beschenkte mich überaus reichlich mit einem tief befriedigenden Leben.
Davon profitiere ich auch heute. Es überrascht daher nicht, mit welcher Kraft und Ausgeglichenheit ich nun meinen „Lebensabschnitt im Bett“ lebe. 2006 wirkten sich zwei Darmoperationen und eine dramatisch verlaufende Lungenentzündung extrem negativ auf den Muskelschwund aus. Seither bin ich dauerhaft bettlägerig, ohne Perspektive auf Besserung. Resignieren und aufgeben war nie mein Ding. Recht pragmatisch ging ich auch diese Neuausrichtung meines Lebens an. Die wichtigste Hürde in meinem veränderten Leben nahm ich mit der Organisation einer 24-stündigen Behindertenassistenz. Mit diesem Assistenzmodell sicherte ich mir ein Weiterleben in meiner häuslichen und sozialen Umgebung.
Und auch dabei kommt ab und an Erstaunliches zustande. So schrieb und veröffentlichte ich 2011 meine Autobiografie „Mut zum ich - der sprechende Kopf“; schreibe Leserbriefschreiber; lade zu den Vorstandssitzungen des DPWV zu mir nach Hause ein. - Das Internet macht zusätzlich vieles möglich und ist meine Nabelschnur in die Welt vor meiner Wohnung.
Bei all dem verlasse ich mich nach wie vor auf meine Lebensmaxime: „Nimm dein Leben selbst in die Hand!“ Oder, wie es als Überschrift zu ihrem Symposium heißt: Nimm Teil : habe Mut!

Danke fürs zuhören und Verabschiedung
Machen Sie sich nun das Thema dieses Symposiums zu eigen! Haben Sie den Mut, sich aktiv in die Diskussion einzumischen und nehmen Sie teil an einem hoffentlich sehr konstruktiven und regen Austausch. Dafür wünsche ich Ihnen viel Erfolg.


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