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Jochen Stelzer
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Partnerschaft - „Wir lernten uns ohne Erwartungen kennen."

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pro familia magazin D Sexualpädagogik und Familienplanung 1/90

Partnerschaft
„Wir lernten uns ohne Erwartungen kennen, und wir nahmen einander an,"
Jochen Stelzer Ursula Schmitt

Bevor Sie das Nachfolgende lesen und auf sich wirken lassen, möchten wir Ihnen einige Fragen stellen: Glauben Sie, dass Partnerschaft zwischen „ungleichen" Partnern möglich ist? Glauben Sie, dass eine glückliche Partnerschaft gelebt werden kann, wenn einer der Partner in Abhängigkeit vom anderen steht? Glauben Sie, dass man mit einer permanenten Belastung für einen der Partner ein gemeinsames Leben aufbauen und führen kann? - Fragen, die noch nichts mit Behinderung zu tun haben und in die sich jeder hineindenken oder die er aus seiner eigenen Erfahrung beantworten kann.

Für Ursula und für mich bedeuten diese existentiellen Fragen aber die Suche nach tragfähigen, gültigen, wirklichkeitsnahen Antworten für unser gemeinsames Leben, für ein gemeinsames Leben, das immer und in zunehmendem Maße unter der übergroßen Belastung meiner progressiven Muskeldystrophie (Muskelschwund) steht, dem dritten, ungeliebten Partner in unserer Beziehung!

Der trügerische Glaube an vorhandene Antworten auf die oben genannten Fragen ist keine solide Basis für eine belastungsfähige Partnerschaft. Ganz im Gegenteil: Dieser Glaube führt in eine scheinbare Sicherheit, schon auf alle Partnerschaftsfragen eine gültige Antwort zu wissen. Eine Partnerschaft kann kaum mit vorgefassten Meinungen und „Schubladendenken" gelebt werden! Wir müssen uns immer aufs neue den täglichen Anforderungen stellen und immer nach besseren Antworten suchen.

Ursula (28 Jahre) und ich, Jochen (37 Jahre), möchten im folgenden zum Nachdenken über Partnerschaft, Erwartungen, Lebensplanung, Sich-Kennenlernen, Ängste, Liebe, Zukunft und Vergangenheit einladen.

Begegnungen und Kontakte mit dem sozialen Umfeld - und das bedeutet für jeden Menschen etwas anderes - sind die ersten Voraussetzungen für ein Kennenlernen von Menschen. Die Voraussetzungen für diese Begegnungen wiederum sind nicht ein Leben in einem selbstgebauten Schneckenhaus, in einer überbehüteten, fremdbestimmten Lebenssituation, sondern treffen nur ein, wenn man es schafft, aus sich und aus seiner Wohnung herauszugehen - mit dem Ziel, am gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen und sich einzubringen. Jeder muss den ersten Schritt auf diesem Weg tun, um Menschen kennenzulernen, um sich kennenzulernen, um mit einer Behinderung, einer Benachteiligung umgehen zu lernen!

Es geht darum, sich anzunehmen, so wie man ist! Und das gilt nicht nur für einen Behinderten! Sich täglich aufs neue der Welt der Nichtbehinderten stellen zu wollen und stellen zu müssen, macht stark, selbstsicher und zeigt uns unsere Grenzen und unsere Möglichkeiten auf. Ich kommuniziere - mit der Umwelt, mit den Menschen und mit mir. Je mehr Menschen ich durch diese aktive Lebenshaltung begegne, desto mehr Chancen habe ich, diese Begegnungen zu vertiefen und daraus Bekanntschaften, Freundschaften, Partnerschaften und Liebe wachsen zu lassen. Je größer mein „Kontaktradius" ist, umso wahrscheinlicher ist es, einen „Schnittpunkt" mit einer Stelle auf der „Kreislinie" zu finden; das heißt: es begegnen mir mehr Menschen, von denen ich sagen kann, dass sie auf meiner Wellenlänge schwimmen. Daher ist die Frage: „Wie finde ich meinen Partner - wie suche ich ihn?" absolut an der Wirklichkeit vorbei gestellt und spiegelt eine falsche Erwartungshaltung wider. Man findet keinen Partner, so wie man ein verlorengegangenes Schlüsselbund findet, und man sucht auch keinen Partner, so wie man eine passende Krawatte zu einem Hemd sucht. Es ist eine „Entwicklungsgeschichte" im wahrsten Wortsinn. Ein Weg von Bekanntschaft über Freundschaft bis hin zu einer Liebes- und Partnerschaftsbeziehung.

Jochen: Meine Behinderung stand lange Zeit als ein Alibi für meine Angst, mich als Mann mit Gefühlen, Sehnsüchten, ungelebten Zärtlichkeiten zu empfinden. Mit Ausreden konnte ich mich und andere belügen und schützte mich vor ablehnendem Verhalten. Erwartungen und Angst vor Ablehnung stießen sich; ein Konflikt, der mir sehr zu schaffen machte. Irgendwie war es, als ob eine Scheuklappe vor dem Verstand hing. Stur rollte ich auf das Ziel los: Freundin/ Partnerschaft. Was sich neben und hinter mir abspielte und an Möglichkeiten vorhanden war, sah ich nicht. Mit meinen Erwartungen und vorgefassten Meinungen blockierte ich mich selbst und legte mir riesige Hindernisse in den Weg. Enttäuschungen waren vorprogrammiert und stellten sich prompt ein. Erst als ich diesen Mechanismus von lähmenden Erwartungen - treibender Sehnsucht - schützenden Ausreden durchschaute, konnte ich freier und unvoreingenommener mit meinem Partnerschaftswunsch umgehen.

Ursula: Man sollte in dem Partner immer zuerst den ganzen Menschen sehen und erst zuletzt die „Schwachstellen" oder, wie ein Seminarteilnehmer bemerkte, „ . . . den Strickfehler im sonst so perfekten Pullover". Das setzt zweierlei voraus und hinterfragt zwei Standpunkte. Erstens: Wie weit habe ich als Behinderter meine Behinderung akzeptiert und stehe zu ihr? Zweitens: Kann ich als Nichtbehinderter mit Behinderten angstfrei und ohne Hemmungen umgehen? - Ich könnte mir vorstellen, dass die zu starke Bewertung der Behinderung die Beziehung unnötig belastet, wenn man diese Frage nicht positiv für sich geklärt hat. Das soll bitte nicht heißen, dass man seine Krankheit, Behinderung oder sein Anderssein verleugnen soll! Es soll heißen, dass es für den nichtbehinderten Partner umso leichter ist, mit diesem „Strickfehler" fertig zu werden, je natürlicher und selbstverständlicher der Behinderte selbst damit umgeht.

Jochen: Nun mal konkret, wie war das, als wir uns vor sieben Jahren begegneten?

Ursula: Aus Interesse besuchte ich eine Veranstaltung des Dritte-Welt-Kreises einer Nachbargemeinde. Wenn ich mich auch nur noch dunkel daran erinnern kann, wurde ich nach dem „offiziellen" Teil zu einem Nachgespräch ins Pfarrhaus eingeladen. Mit Bestimmtheit kann ich aber sagen, dass Jochen mir damals nicht wegen seines Rollstuhl auffiel, sondern dass mir seine Art zu reden, seine Gelassenheit und sein Aussehen durchaus sympathisch waren. Um mit Jochen weiterhin in Kontakt zu bleiben, begleitete ich ihn, ich auf dem Fahrrad, er in seinem elektrischen Rollstuhl, nach Hause. Es überraschte mich, dass wir uns auf Anhieb so gut verstanden. Nachdem wir unsere Adressen ausgetauscht hatten, „musste" ich Jochen ganz impulsiv zum Abschied umarmen. Vielleicht ist es ja auch interessant, zu erfahren, wie du diesen Abend im Gedächtnis hast.

Jochen: Wenn ich mich an den Abend erinnere, dann steht im Mittelpunkt „unser Abschied". Mich machte recht stutzig, dass Ursula mich so ohne „Notwendigkeit" bis nach Hause begleitete. Die Art, wie wir uns unterhielten und wie wir uns in den wenigen Minuten näher kamen, machte mich unsicher und aufgeregt zugleich. Und als Ursula mich zum Abschied herzlich umarmte, brachte das meine Gefühle arg durcheinander. Es verblüffte mich, wie schnell herzliche Nähe entstanden war. In den folgenden Monaten und Jahren entwickelte sich ein guter kameradschaftlicher Kontakt, den wir durch Briefe, Anrufe und Verabredungen pflegten. Immer wieder verblüfft mich die stärker werdende Nähe, Offenheit, Sensibilität für das Leben des anderen. Mein Rollstuhl, genauer meine Behinderung, war bei den unterschiedlichen Kontakten kaum ein Hindernis, und die Art, wie Ursula mit mir „umging", machte es mir leicht, diese sich vertiefenden Kontakte auch aktiv mitzugestalten. Da wir beide einen ganz schön bewegten und ausgefüllten Alltag lebten, fand sich immer reichlich Schreib- und Gesprächsstoff und dadurch die Chance, sich ein Stück weiter und besser kennenzulernen. Für mich war das ganz wichtig, denn mit dem „Kopf" fühle ich mich gleichwertig mit Ursula, was körperlich nicht der Fall ist.

Ursula: Wenn ich in Marl war, besuchte ich Jochen auch zu Hause, aber mich störte immer, dass er nicht allein war. Er teilte sich im Haus seiner Eltern ein Zimmer mit seinem jüngeren, gleichfalls behinderten Bruder. Die Situation änderte sich, als Jochen nach langem Suchen eine eigene, rollstuhl-gerechte Wohnung bekam. Ich besuchte Jochen nun häufiger, aber die Sache hatte einen „Schönheitsfehler": Statt der Familie waren jetzt Zivildienstleistende da. Wir waren viel zu selten für uns, der anwesende ZDL „behinderte" uns beim Vertiefen unserer Freundschaft und ließ kaum eine intime Atmosphäre entstehen. Es war immer ein dritter Mann in der Wohnung! - Irgendwann fasste ich mir ein Herz und blieb bis nach Dienstschluss des ZDL bei Jochen.

Jochen: So im Rückblick kann ich feststellen, dass das Wagnis einer eigenen Wohnung eine wesentliche Voraussetzung für neue Lebensmöglichkeiten war. Obwohl ich eingestehen muss, dass ich zum damaligen Zeitpunkt an eine feste Partnerschaft nicht mehr recht glaubte und mir keine funktionierende Zweierbeziehung mit einer Zukunftsperspektive ausmalen konnte. - Unbemerkt und ohne daran aktiv zu arbeiten, legte ich meine „Scheuklappen" ab und machte mich freier für „unvorbelastete" Kontakte. Ich entkrampfte mich und lernte Seiten meiner Persönlichkeit kennen, die vorher brach lagen und unbekannt in mir schlummerten. Ein deutlicher Reifeprozess, der mich stärkte, selbstsicherer und freier machte! Die Abnabelung vom Elternhaus und das eigenverantwortliche „Stehen auf den eigenen Beinen" scheint mir eine, wenn nicht die wesentliche Voraussetzung für den Start in eine Partnerschaft zu sein. Irgendwie konnte ich nicht richtig einschätzen, wie eine Frau mit mir und mit meinem Muskelschwund umgehen würde. Die immer umfangreicher werdenden Hilfen und der eingeredete, sich verkleinernde Aktionsradius führten mich bei meinen Überlegungen immer wieder zu dem Punkt: Kann und darf ich einer Frau eine solchermaßen belastende Partnerschaft zumuten? Kann es eine gleichwertige Partnerschaft mit mir überhaupt geben, wenn die spezifischen Anforderungen so ungleich verteilt und einseitig sind? Und immer wieder stieß sich mein anerzogenes Männerbild mit all den eingeredeten Erwartungen an der Erkenntnis, dass auch diese Erwartungen nicht erfüllen kann. - Bin ich als behinderter Mann überhaupt attraktiv für Frauen? Kann ich die Konkurrenz zu den vielen nichtbehinderten Männern bestehen? - Ohne es zu merken, schob ich den Frauen meine „Meßlatte" unter und definierte Erwartungen von Frauen an Männer. - Meine „Meßlatte" war eine männliche „Meßlatte" und ich ließ unbeachtet den Frauen kaum Raum, sich selbst in eine Beziehung einzubringen. Dabei dachte ich mit fester Überzeugung, partnerschaftsfördernde Ansichten und Einsichten in ein Beziehung einbringen zu können. - Mittlerweile ist mir klar, dass ich durch meine Erwartungen, durch „meine Meßlatte", Kriterien für einen Menschen definierte und ihm so keine Chance gab, er selbst zu sein. Erst recht spät ging ich einen wesentlichen Schritt in Richtung Partnerschaft. Wenn ich das auf einen Nenner bringen soll, stehen dafür die Umschreibungen „Lebensplanung/Partnerschaft" und „Sexualität/Gefühle zulassen". Beide Umschreibungen haben auch mit Ursula zu tun.

Ursula: Wir gingen unsere Partnerschaft mit keinem festen Konzept an, jeder muss lernen, immer wieder neu lernen und sich überprüfen. Die früheren Partnererfahrungen, sofern sie diesem Anspruch gerecht wurden, lagen eher lastend als helfend auf uns. Nicht ohne Reibungsverluste versuchten wir, Schritte auf den anderen hin zu gehen, schwankten zwischen dem übermächtigen Wunsch nach Nähe und der blockierenden Angst vor vereinnahmender Nähe, in der sich der Einzelne aufgibt oder unterdrückt fühlt. Die täglichen Belastungen, die sich aus dem Muskelschwund ergeben, lassen die Waage oft stärker auf Jochens Seite hin ausschlagen, vieles „dreht" sich um Jochen und ich tue mich mit dieser „herausgehobenen" Rolle schwer. Durch die notwendigen Hilfeleistungen ist einer der Partner häufiger Mittelpunkt: Takt, Feingefühl und Einfühlungsvermögen sind da besonders gefordert!

Jochen: Ursula und ich lernten uns intensiver kennen, als ich meine eigene Wohnung bezog. Regelmäßige Besuche, viele Gespräche und das damit verbundene Kennenlernen schufen Nähe und Vertrautheit, aus der sich ganz langsam ein Weg von Freundschaft hin zur Partnerschaft abzeichnete. Ich denke, es war sehr wichtig und wesentlich, dass Ursula mich in meinem Alltag sah und erlebte, wo meine Stärken und meine Schwächen lagen, wie umfangreich ich auf Hilfestellungen angewiesen bin, in welchen Lebensbereichen sich der Muskelschwund besonders negativ auswirkt. Ursula erlebte all das mit und brachte sich nach und nach ein, schaute den Zivildienstleistenden über die Schulter und übernahm kleine Hilfestellungen. Mir war das zuerst unangenehm, Ursula sah „Jochen den Behinderten", so wie er tatsächlich lebt, als pflegebedürftiger Mann. Zudem traute ich einer Frau nicht so recht zu, die schweren körperlichen Hilfestellungen leisten zu können. Mehr als einmal unterschätzte ich Ursula, was ihr weh tat und was sie in ihren Möglichkeiten nicht zum Zuge kommen ließ. Mir mangelte es in diesem Punkt an Vertrauen ohne dass mir dies bewusst war. Erst nach und nach, durch Ursulas Einsprüche, erkannte ich meinen Fehler und änderte mein Verhalten. Zudem baute sich in mir eine Art von Angst auf, mich Ursula anzuvertrauen (mich ausschließlich ihrer Hilfe auszuliefern). Zivil-dienstleistende bedeuten für mich „Freiheit" und Unabhängigkeit; auf Ursula angewiesen zu sein, bedeutete Rücksichtnahme, „Einschränkung", Abhängigkeit. Es war und es ist nicht einfach, meine Aktivitäten, meinen bisherigen Lebensplan, meine Neigungen und meine Schwächen mit Ursulas Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Wie weit darf ich gehen, wenn ich von Ursula eine Hilfe erbitte? Steht Ursula nicht all zu oft unter „Zugzwang"? Wo ist ihre und wo ist meine Grenze?

Ursula: Was ist eigentlich das Besondere, das Ausschlaggebende einer solchen „Ungleichgewichtigen Beziehung"? Die Besonderheit liegt - so denke ich oft - in der Alltäglichkeit. Durch Jochens selbstverständlichen Umgang mit seiner Krankheit konnte ich sie besser akzeptieren und lernen, damit umzugehen, als wenn er völlig „ungereift" mit seiner Behinderung umgegangen wäre. Gut, es gibt noch viele Augenblicke, in denen ich über die technischen Hilfen und den Rollstuhl fluche, habe dies aber relativ gut „im Griff". Was mir eher zu schaffen macht, ist die Progressivität, d.h. die Verschlechterung der körperlichen Fähigkeiten. Krankengymnastik zweimal in der Woche und Warmwassermassagen können nicht verhindern, dass die noch funktionierende Muskularität schwächer wird und ich in den drei Jahren den langsamen Verfall erkenne und mitleide. Da gibt es Momente, wo mir fast der Bissen im Hals stecken bleibt, wenn ich mit ansehen muss, wie sich Jochen mit zwei „kranken" Händen mit etwas abmüht, was ich mit links schaffe. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht immer dem „Helfersyndrom" nachzugeben. Jochen soll und möchte das, was er noch an körperlichen Aktivitäten schaffen kann, selbst tun. Selbst wenn das Telefon zwanzigmal klingelt und vielleicht Kaffee verschüttet wird, ist es wichtig, dass Jochen sich nicht mit Hilfe zuschütten lässt. Man muss immer bedenken, dass jeder dieser Handgriffe vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr leistbar ist. Dieses Bewusstsein lässt mich manchmal dankbar sein um Kleinigkeiten, die noch möglich sind - eine Dankbarkeit, die ich in einer „normalen" Beziehung nicht kennengelernt hätte. Und dieses Bewusstsein macht mich traurig nach jeder Auseinandersetzung, nach jeder Meinungsverschiedenheit - schade um diese vertane Zeit! Damit will ich nicht sagen, dass man in solch einer Beziehung eine „Friede-Freude-Eierkuchen- Partnerschaft" leben sollte. Konflikte sollen und müssen gelebt werden - aber wir leiden beide besonders stark daran. Im Gegensatz zu mir, die ich meine Aggressionen „ausleben" kann, schüttet sich Jochen von innen mit den unausgesprochenen und unauslebbaren Gefühlen zu. Da werden der Rollstuhl und die Behinderung zum Gefängnis von Trauer, Angst und Wut. Bis auf diesen Knackpunkt, den wir noch nicht optimal gelöst haben, bin ich froh und dankbar, dass wir uns damals begegnet sind. Wir wollen - bei allen Steinen, die auf unserem Weg liegen - eine gemeinsame Zukunft erleben. Ein Ausblick ist nur vage möglich: Wir wollen zwar eine „normale" Partnerschaft in einer Ehe bzw. eheähnlichen Gemeinschaft leben, aber man kann nur hoffen und wünschen, dass sich der Muskelschwund langsam entwickelt und Jochen sich zusammen mit mir noch lange in seinen begrenzten Möglichkeiten selbstverwirklichen kann.

Aus zwei Bereichen kam in der Vergangenheit immer wieder Konfliktstoff, und es scheint sich noch keine abschließende Lösung abzuzeichnen. Da ist zum einen die nach wie vor erforderliche Anwesenheit von Zivildienstleistenden. Es liegt auf der Hand, dass diese Anwesenheit ab und an stört. Es ist halt immer eine dritte Person in der Wohnung. Seit einigen Monaten erstellen wir gemeinsam den ZDL-Einsatzplan und bauen „zivi-freie Tage" ein. Das klappt, hat aber den Nachteil, dass wir es planen müssen. (Es ist leichter, einem Zivi abzusagen, als kurzfristig einen Zivi anzufordern!) Wir machen die beruhigende Erfahrung, dass wir uns aufeinander verlassen können. Für Jochen ist diese Verlässlichkeit wichtig und eine enorme Erfahrung. In mehreren Punkten ist es heute schon so, dass Jochen bestimmte Hilfen lieber von Ursula erbittet als von den ZDLs. Jochen kann bei Ursula mit seiner Hilflosigkeit unverklemmter umgehen. -Ein zweiter Konfliktbereich ist Jochens Engagement in Vereinen, Verbänden, Gruppen und Einrichtungen. Sein Terminkalender ist gut „gefüllt", und besonders die Abende sind belegt. Dieses Engagement bringt viele Kontakte, Verantwortung und „Hausarbeiten" mit sich. Dazu findet Ursula keinen Zugang, es sind Interessen jenseits der ihrigen. - Jochens Engagement, das ein wichtiges Stück seines Lebens ist, durch das er sich verwirklicht, wertet Ursula anders. Hier macht sich unser unterschiedlicher Lebensweg sehr deutlich bemerkbar.

Bei allen frühen Schwierigkeiten unserer Partnerschaft, denen wir nicht aus dem Weg gingen und denen wir uns auch in unserer gemeinsamen Zukunft stellen wollen, steht im Vordergrund unsere Liebe. Wir lieben uns, da wir uns annehmen, mit allen Stärken, Schwächen, Macken, Ecken, mit unserem Lachen und Weinen, mit dem gegenseitigen Vertrauen und der Verlässlichkeit. Wir versuchen, „nicht eins zu werden" um den Preis der Selbstaufgabe, sondern Zweisamkeit zu schaffen. Die besondere Verletzlichkeit unserer Beziehung, die „Rollenverteilung" und „Abhängigkeit", das „Ausgeliefertsein" an den progressiven Muskelschwund erfordert ein besonders angstfreies Miteinanderumgehen. Wir wissen um unsere Persönlichkeiten und wissen um die Kraft der Zweisamkeit, die uns trägt und offen macht für den anderen und für unsere Bedürfnisse. Wir machen uns gegenseitig Mut, Gefühle „zuzulassen" im beruhigenden Wissen, sich nicht verstellen zu müssen. Wir sind füreinander da, im Wortsinn und jeder mit seinen Möglichkeiten, eine wunderschöne Erfahrung. - Wir hatten die Chancen, uns zu begegnen; wir lernten uns ohne Vorbedingungen oder Erwartungen kennen und nahmen uns an. Nun sind wir auf einem gemeinsamen Weg, holprig und kurvig, aber mit einem gemeinsamen Ziel!


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